„Wir haben viel Dankbarkeit erfahren“
DRK-Unterkunftsleiter Sven Kessler im Interview
Am Freitag, 22. Juli 2016, haben die letzten Bewohner die Zentrale Erstaufnahme Rugenbarg verlassen. Die vom DRK Kreisverband Hamburg Altona und Mitte e.V. betriebene Unterkunft schließt Ende September, weil die Flüchtlingszahlen gesunken sind und keine Verlängerung des Mietvertrags zustande gekommen ist. Seit dem Start vor einem knappen Jahr wurden in dem ehemaligen Baumarkt insgesamt über 3100 Asylsuchende von rund 60 Mitarbeitern des DRK betreut. Einrichtungsleiter Sven Kessler blickt auf einer Zeit voller Herausforderungen und wertvoller Begegnungen zurück.
Frage: Wie schnell ist die Zeit für Sie vergangen?
Sven Kessler: Es war ein intensives Jahr! Vor allem am Anfang ging alles Schlag auf Schlag. Wir haben am 25. September 2015 von der Stadt den Auftrag bekommen, die Einrichtung quasi über Nacht im Rahmen des Katastrophenschutzes aufzubauen. Begeistert hat mich dabei das Engagement der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern unserer Bereitschaften, die sich in den ersten Tagen leidenschaftlich dafür eingesetzt haben, die Unterkunft zum Laufen zu bringen. Nachdem ich den Einsatz zunächst ehrenamtlich unterstützt habe, wurde mir spontan eine hauptamtliche Tätigkeit der Einrichtungsleitung angeboten, wofür ich meinem damaligen Job als Assistent der Geschäftsführung in einem Medienunternehmen kündigen musste. Aber dieser Herausforderung habe ich mich bis zuletzt gerne gestellt und nicht bereut.
Was waren die größten Herausforderungen beim Aufbau und Betrieb der Unterkunft?
Zunächst die Logistik. Ein ehemaliger Baumarkt ist nicht dafür vorgesehen, bis zu 1600 Menschen eine Übernachtungsmöglichkeit zu geben. Wir mussten innerhalb kürzester Zeit für Wasser, Abwasser, Elektrizität und Brandschutz entsprechende Infrastrukturen schaffen sowie gutes Personal gewinnen. Bereits während der laufenden Baumaßnahmen mussten wir die neu ankommenden Flüchtlinge vor Ort koordinieren. Der Druck auf Deutschland, auf Hamburg war groß und es galt, allen Menschen Obdach zu geben. Darüber hinaus haben wir uns bis zum Schluss dafür eingesetzt, eine bessere Privatsphäre zu schaffen.
Was war Ihnen als Leitung besonders wichtig?
Sauberkeit, Ordnung und Struktur. Meine Devise war, erst die entsprechenden Strukturen zu schaffen, nach denen sich gerichtet werden soll. Zum Beispiel konnte ich nicht sagen, dass keine Wäsche auf die Zäune gehängt werden darf, solange es noch keine Trockner gab.
Fiel es Ihnen schwer, diese Strukturen durchzusetzen?
Ein Großteil der Bewohner hatte einen gewissen Bildungsstand und hätte die Wäsche auch nicht einfach über den Zaun gehängt, wenn ihnen nichts anderes übrig geblieben wäre. Nachdem wir den Flüchtlingen die Gründe für solche Strukturen erklärt haben, wurden sie auch verstanden und angenommen. Weniger Verständnis gab es beim Thema Müllmanagement durch die Bewohner. Die Wohnbereiche von Familien waren sauberer als die von alleinreisenden Männern.
In einem ehemaligen Baumarkt mit Hunderten Menschen zusammenzuleben, ist herausfordernd. Wie hat sich das bei den Bewohnern bemerkbar gemacht?
Ich habe unsere Einrichtung oft mit einem größeren deutschen Dorf verglichen. Vieles, was typisch für das Zusammenleben in einem Dorf ist, gab es hier auch auf engem Raum. Dazu gehören wie in jeder Erstaufnahme leider auch hin und wieder Handgreiflichkeiten zwischen einigen Bewohnern. Die Mitarbeiter unseres Sicherheitsdienstes haben dafür gesorgt, die Zahl solcher Vorfälle sehr gering zu halten, indem sie bei Konflikten schnell eingegriffen und Bewohner mittels Hausrecht notfalls temporär auch des Geländes verwiesen haben. Selbstverständlich haben wir im Nachhinein mit den Streitenden über das Vorgehen gesprochen.
Was haben Sie getan, um das Leben wohnlich zu gestalten und erste Schritte in Richtung Integration zu gehen?
Wir hatten unter anderem ein umfangreiches Angebot an Freizeitaktivitäten, Deutschkursen sowie eine Kleiderkammer und eine Fahrradwerkstatt. Außerdem befanden sich eine halboffene Kinderbetreuung und eine Grundschule auf dem Gelände. Auch die medizinische Versorgung konnten wir durch einen High-Tech-Container und eine Mobile Zahnarztpraxis verbessern. Dabei haben Spenden, Kooperationen und ehrenamtliches Engagement, das vom ersten Tag an sehr hoch gewesen ist, eine große Rolle gespielt. Dafür sind wir sehr dankbar.
Welche persönlichen Erinnerungen verbinden Sie mit den Bewohnern?
Berührt hat mich, dass in dem Jahr elf neue Erdenbürger nach ihrer Geburt im Krankenhaus die ersten Wochen ihres Lebens bei uns verbracht haben. Unter die Haut ging auch das Feedback eines syrischen Bewohners, der im Rahmen seines Asylverfahrens in eine andere Stadt wechseln musste und sich dafür bedankte, wie wir uns um ihn und die anderen Bewohner gekümmert haben. Er sagte, dass er, sobald er Freizügigkeit genießen darf, wieder nach Hamburg kommen wolle und dem DRK für immer verbunden sein werde. Wir haben viel Dankbarkeit erfahren, auch beim Abschied der letzten Bewohner.
Zur Person:
Sven Kessler hat seine Wurzeln in der Gastronomie, Logistik und den Medien, bezeichnet sich selber als Allrounder und betreibt gerne Projektarbeit. Der 46-jährige gebürtige Hamburger ist seit 17 Jahren Mitglied im DRK und engagiert sich ehrenamtlich als Zugführer im Katastrophenschutz.